Als 1912 die Einrichtung des Kleistpreises beschlossen wurde, entschied man sich bewusst gegen eine Mehrheitsentscheidung bei der Preisvergabe. Ein einzelner „Vertrauensmann“ sollte den Preisträger benennen, zur Begründung dieses Vorgehens hieß es:
Der Kleistpreis soll neue und ungewöhnliche Begabungen unterstützen. Mehrheiten entscheiden sich für das Durchschnittstalent, das es allen recht macht. Nur ein einzelner kann sich rücksichtslos für das Außerordentliche einsetzen.
Walter Hasenclever
1917 war es der Vertrauensmann Bernhard Kellermann, der sich für einen Preisträger entschied, den der im dritten Jahr tobende Krieg gerade wie so viele um ihn herum vom Befürworter des Waffengangs zum glühenden Pazifisten gemacht hatte: Walter Hasen- clever wurde mit diesem vielleicht wichtigsten Preis jener Zeit ausgezeichnet und bekam damit ein Stück öffentliche Anerkennung für ein Werk, das in vielerlei Hinsicht exemplarisch war für die literarische Produktion des Expressionismus der frühen Jahre.
1910 war der 20-jährige Hasenclever nach Leipzig gekommen, um sein Jurastudium (das hinter den Kulissen eher ein Literaturstudium war) fortzusetzen, und kam dort in Berührung mit wichtigen Größen des literarischen Lebens wie Kurt Pinthus oder auch Franz Werfel. Schnell fand er Zugang zu den Kreisen, in denen die expressionistische Bewegung keimte, und entwickelte dort selbst eine erstaunliche Produktivität. Hatten die frühen Werke Nirwana. Eine Kritik des Lebens in Dramaform und Städte, Nächte und Menschen noch spüren lassen, dass Hasenclever sich von einer als sehr unglücklich erlebten Jugend freischreiben musste, so entstanden in den nun folgenden Leipziger Jahren einige seiner zentralen Texte.
Die Dramen Der Sohn und Antigone (welches maßgeblich für die Verleihung des Kleist-Preises war) sind hier zu nennen, sowie der Gedichtband Der Jüngling. Hasenclevers Lyrik lässt Rilke und die Neuromantik als stilbildende Momente erahnen, seine Dramatik orientiert sich nicht unwesentlich an Ibsen. Doch Hasenclever schafft es, allem einen unverwechselbaren Ton zu verleihen, der seine Werke über jene eines „Durchschnittstalents“ erhebt.
Nach dem Krieg lebt Hasenclever einige Jahre in Dresden; es entstehen weitere dramatische und lyrische Werke sowie mit Die Pest „der erste Filmtext, der in Buchform gedruckt wurde“, der allerdings nie verfilmt worden ist. Die Beschäftigung mit diesem neuen Medium aber sollte Hasenclever noch viele Jahre begleiten, zu Beginn der 1930er-Jahre schrieb er sogar Drehbücher für die „göttliche“ Greta Garbo.
1924 beginnt für den Dichter ein neues Leben: Es zieht ihn nach Paris. Er bestreitet seinen Lebensunterhalt mit journalistischen Arbeiten, u.a. für das Berliner 8 Uhr-Abendblatt. 1926 entsteht das Drama Mord, in dem Hasenclever endgültig mit dem Expressionismus bricht. Er wandelt sich zum Komödiendichter, wird auf deutschen Bühnen oft und gerne gespielt. Seine Stücke leben von der Kunst des Dialogs, die Handlung tritt der Sprachkunst gegenüber oft ein wenig in den Hintergrund: Hasenclevers Dramen entwickeln ihren Bedeutungsgehalt immer aus den Gesprächen der Figuren.
Bis 1930 bleibt Hasenclever in Paris, dann kehrt er nach Berlin zurück, wirkt aber auch als Drehbuchautor in Hollywood. Schließlich beginnt mit dem Aufmarsch der braunen Horden in seiner Heimat und seinem unvermeidlichen Gang ins Exil auch für ihn die schwierigste Zeit seines Lebens, die er nach sieben Jahren 1940 mit dem Selbstmord in einem französischen Internierungslager beendet. Literarisch wendet sich der späte Hasenclever verstärkt der Prosa zu, es entstehen Irrtum und Leidenschaft sowie Die Rechtlosen, ein autobiographischer Roman, der 1939 in Gefangenschaft entsteht und auf erschütternde Weise das Emigrantenleben in Frankreich thematisiert.
Hasenclevers Werk ist vielschichtig; in seinem Denken und Schaffen zeigt sich der Autor als in stetem, an den Zeitläuften orientiertem Wandel begriffen. Diese Tatsache macht eine Beschäftigung mit den Texten dieses vergessenen Dichters so wertvoll.
Werke von Walter Hasenclever (Auswahl)
Nirwana. Eine Kritik des Lebens in Dramaform (1909)
Städte, Nächte, Menschen (1910)
Das unendliche Gespräch. Eine nächtliche Szene (1913)
Der Jüngling (1913)
Der Sohn (1914)
Der Retter (1916)
Antigone (1917)
Tod und Auferstehung (1917)
Die Menschen (1918)
Der politische Dichter (1919)
Die Entscheidung (1919)
Jenseits (1920)
Die Pest. Ein Film (1920)
Gedichte an Frauen (1922)
Gobseck (1922)
Mord. Ein Stück in zwei Teilen (1926)
Ein besserer Herr. Lustspiel in zwei Teilen (1927)
Ehen werden im Himmel geschlossen (1929)
Napoleon greift ein. Ein Abenteuer in sieben Bildern (1930)
Münchhausen (1934)
Irrtum und Leidenschaft. Erziehung durch Frauen (1969 aus dem Nachlass veröffentlicht)
Die Rechtlosen (1963 aus dem Nachlass veröffentlicht)