Kasimir Edschmid
Erzähler, Reiseschriftsteller, Essayist, Journalist – was war er nun eigentlich, dieser 1890 in Darmstadt geborene Kasimir Edschmid? Die Antwort kann wohl nur lauten: Einmal mehr das eine, ein andermal mehr das andere, doch eigentlich immer alles zugleich. Das Multitalentierte zieht sich quer durch Edschmids beachtliches Gesamtwerk, das genauso viele spannende wie problematische Stellen aufweist und allein dadurch die Bandbreite schriftstellerischen Schaffens in extenso präsentiert.
Zunächst huldigte Edschmid, der eigentlich Eduard Schmid hieß und sich erst später seinen Künstlernamen zulegen würde, dem Rausch des Expressionismus, mit dem sein Schaffen, so man sich heute noch daran erinnert, vorwiegend in Verbindung gebracht wird.
Hämmernde Wortkaskaden waren sein Markenzeichen, ihn trieb eine geradezu ekstatische Suche nach neuen Ausdrucksformen. Durch Prosa, durch Manifeste und Essays, sollte das alte, überkommene Schreiben gesprengt werden, um Platz für Neues zu schaffen. Ein Forum für die frühen Arbeiten bot ihm die Zeitschrift Die weißen Blätter, die Schriftstellerkollege René Schickele, Elsässer wie Edschmid, herausgab (vgl. dazu Carsten Tergasts Kolumne Der „zweisprachige Grenzvogel“ René Schickele – Journalist, Schriftsteller und früher Europäer vom 26. Mai 2008; Anm. d. Red.). Die Novellen Die sechs Mündungen, Das rasende Leben sowie Timur erschienen 1913 in Schickeles bekanntem Blatt, bevor es 1915/1916 zu entsprechenden Buchausgaben kam.
Edschmids frühe Texte zeugen von der reinen Lehre des Expressionismus: Realistische Passagen, entwickelte Charaktere und psychologische Feinheiten spielen keine Rolle. Statt dessen geht es rauschhaft und visionär zu, der menschliche Erfahrungshorizont wird bis in seine ungeahnten Tiefen und Höhen ausgelotet. Letztlich geht es dabei in der Tradition revolutionär angehauchter Literatur – die Autoren des Jungen Deutschland und des Sturm und Drang sind erkennbare Ikonen – um neue Weltbilder und die Schaffung neuer, überlegener Generationen. Diese ideelle Ausrichtung schlägt sich auch in den verschiedenen essayistischen Schriften der früheren Jahre nieder; vor allem drei Texte sind hier zu nennen: Über den Expressionismus in der Literatur und die neue Dichtung (1919), Die doppelköpfige Nymphe (1920) sowie Das Bücher-Dekameron (1923). Die Kritik in diesen Schriften richtet sich gegen alles Ungeistige, gegen Obrigkeitshörigkeit und gegen eine in diesem Sinne opportunistische Literatur.
Der Roman Die achatnen Kugeln (1920) brachte eine Wende in Edschmids literarischer Entwicklung. Der Text war dem breiten Publikum unzugänglich und verfehlte im Großen und Ganzen seine Wirkung, so dass der Autor in der Folge einen Schwenk hin zu einer deutlich realistischeren Schreibweise vollzog. Davon zeugen etwa der erste deutsche Sportroman Sport um Gagaly (1927) sowie die sehr lebendigen biographischen Romane über Lord Byron, Georg Büchner und Simon Bolivar.
Einen wichtigen Teil des literarischen Schaffen Edschmids machten fortan die Reiseschilderungen aus, doch schien hier auch die problematische Seite am „virtuosen Erzähltalent“, wie ihn Expressionismus-Ikone Kurt Pinthus nannte, auf. Durch seine journalistisch geschulte Schreibweise vermochte Edschmid, viele Details zu vermitteln und den Erfahrungshorizont seiner nicht so weit gereisten Mitmenschen zu erweitern. Seine Bücher brachten den Lesern fremde Länder und Kulturen nahe und schufen ein Bewusstsein dafür, dass es außerhalb der Heimat Dinge gibt, die uns interessieren und für uns von Bedeutung sein könnten. Indes: Es gibt nicht wenige Stimmen, die ihm dabei ein problematisches Menschenbild vorwerfen und ihn einen latenten Rassisten schimpfen. Und bei einem genauen Blick in die Vielzahl der Reisebücher Edschmids finden sich in der Tat immer wieder Passagen, die eine akzeptable Sichtweise auf fremde Völker und Kulturen vermissen lassen.
Trotz seiner nationalistisch eingefärbten Einstellung wurde Kasimir Edschmid nach 1933 ein zeitweises Schreib- und Redeverbot auferlegt und einige seiner Bücher landeten auf dem Scheiterhaufen. Edschmid selbst blieb jedoch im Land. Wie so viele entschied er sich für die innere Emigration und hielt sich mit unpolitischen Veröffentlichungen über Wasser. Wie schwierig das war, lässt sich an seinem Verhältnis zu Erna Pinner erkennen, einer Jüdin, mit der er vor der Nazizeit liiert war und die zu vielen seiner Bücher die Illustrationen beigesteuert hat. Pinner emigrierte und überlebte; ihr Briefwechsel mit Edschmid ist in einer stark bearbeiteten Form Ende der 1990er-Jahre als Buch erschienen. Aus ihm wird ersichtlich, wie der Krieg und die Gräueltaten der Nazis das einstige Liebesverhältnis trotz einer gewissen Vertrautheit im Ton der Briefe unmöglich machten. Ein Zitat Edschmids hat dem Buch seinen Titel gegeben: „Wir wollen nicht mehr darüber reden.“ Eben diese Auffassung vieler Deutscher nach dem Krieg ermöglichte es Edschmid, in der jungen Bundesrepublik als Literaturfunktionär noch einmal ein wenig Karriere zu machen. Er war Mitbegründer der Darmstädter Sezzession und Vize-Präsident des deutschen PEN.
Was macht man nun mit solch einem Schriftstellerleben? Ignoriert man es, weil es problematische Stellen aufweist? Oder setzt man sich damit auseinander, weil es von einem immensen Schaffensdrang zeugt, der auch die menschlichen Verfehlungen nicht außen vor lässt? Meistens lässt sich aus objektiver Beschäftigung mit zwiespältigen Phänomen etwas lernen. Das ist auch hier der Fall. Denn wer könnte sich freimachen von der Erkenntnis, dass einen das Leben immer wieder vor Entscheidungen stellt, die einen innerlich zu zerreißen scheinen. Und nicht immer trifft man eine Entscheidung, mit der man hinterher glücklich wird. Zu verstehen ist fast jede Entscheidung nur vor dem konkreten historischen Hintergrund der Zeit, weswegen später Geborene manchmal ungerecht urteilen. Dieses Schicksal einer vielleicht übertrieben kritischen Draufsicht der Nachgeborenen erleiden auch Schriftsteller wie Edschmid. Die Beschäftigung mit seinem Werk kann daher eine Übung in Objektivität sein. Und wer den frühen Edschmid liest, erhält nebenbei eine hevorragende Einführung in die Tiefen des literarischen Expressionismus.
Kasimir Edschmid im ZVAB (Auswahl)
Verse, Hymnen und Gesänge (1911)
Die sechs Mündungen (Novellen, 1915)
Das rasende Leben (Novellen, 1915)
Timur (Novellen, 1916)
Die Fürstin (Novelle, 1918, mit Radierungen von Max Beckmann)
Stehe von Lichtern gestreichelt (Gedichte, 1919)
Über den Expressionismus in der Literatur und die neue Dichtung (Aufsätze, 1919)
Schöpferische Konfession (Schriftensammlung, 1920)
Die achatnen Kugeln (Roman, 1920)
Die doppelköpfige Nymphe (Aufsätze, 1920)
Kean (Schauspiel, 1921)
Frauen (Novellen, 1922)
Die Naturgeschichte der Antilope (1923)
Die Engel mit dem Spleen (Roman, 1923)
Das Bücher-Dekameron (Aufsätze, 1923)
Basken, Stiere, Araber (1926)
Die gespenstigen Abenteuer des Hofrat Brüstlein (Roman, 1927)
Europäisches Reisebuch (1927)
Sport um Gagaly (Roman, 1928)
Lord Byron. Roman einer Leidenschaft (1929)
Geschichte von den Suaheli-Mädchen und den schwarzen Kriegern (Erzählung, 1929)
Afrika nackt und angezogen (1929)
Glanz und Elend Süd-Amerikas (1931)
Deutsches Schicksal (Roman, 1932)
Zauber und Größe des Mittelmeers (1932)
Im Spiegel des Rheins. Westdeutsche Fahrten (1933; Neuauflage 1963 unter dem Titel Vom Bodensee zur Nordsee. Fahrten im Westen)
Italien. Lorbeer, Leid und Ruhm (1935)
Das Drama von Panama (1936)
Der Liebesengel (Roman, 1937)
Das Südreich (Roman, 1937)
Italien. Gärten, Männer und Geschicke (1937)
Erika (Erzählung, 1938)
Das Auto-Reisebuch (1938)
Italien. Inseln, Römer und Cäsaren (1939)
Italien. Hirten, Helden und Jahrtausende (1941)
Das gute Recht (1946)
Im Diamantental (Erzählungen, 1947)
Italienische Gesänge (Gedichte, 1947)
Bunte Erde. Gewesenes und Gewandeltes (1948)
Italien. Seefahrt, Palmen und Unsterblichkeit (1948)
Der Zauberfaden (Roman, 1949)
Wenn es Rosen sind werden sie blühen (Roman, 1950; Neuauflage 1966 unter dem Titel Georg Büchner, eine deutsche Revolution)
Der Marschall und die Gnade (Roman, 1954; Neuauflage 1965 unter dem Titel Bolivar – Die Befreiung Südamerikas)
Italien. Von Verona bis Palermo (1954)
Italien. Zwischen Alpen und Appenin (1955)
Italien. Zwischen Appenin und Abruzzen (1956)
Italien. Rom und der Süden (1957)
Zauber der Ferne (1957)
Frühe Manifeste. Epochen des Expressionismus (1957)
Drei Kronen für Rico (Roman, 1958)
Kleines europäisches Reisebuch (1958)
Stürme und Stille am Mittelmeer (1959)
Lebendiger Expressionismus (1961)
Porträts und Denksteine (1962)
Whisky für Algerien (Roman, 1963)
Briefe der Expressionisten (1964, Hrsg.)
150 Jahre Deutsche Freiheitsrufe (1965)
Italien. Landschaft – Geschichte – Kultur (1968)
Das beschämende Zimmer. Frühe Prosa (1981)
„Wir wollen nicht mehr darüber reden.“ (Briefwechsel mit Erna Pinner, 1999)